Название: Archiv der verlorenen Kinder
Автор: Valeria Luiselli
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783956143366
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Das Mädchen füllt jetzt konzentriert die Quadrate aus. Ich trinke meinen Kaffee, öffne wieder Sontags Tagebücher und lese erneut einzelne Zeilen und Worte. Ehe, Scheidung, moralische Buchführung, Trennung: Haben unsere Unterstreichungen die Probleme angedeutet? Wann begann unser Ende? Ich kann nicht sagen, wann oder warum. Ich bin mir nicht sicher, wie es passiert ist. Als ich kurz vor unserer Abreise ein paar Freunden erzählte, dass meine Ehe wahrscheinlich zerbrechen wird oder zumindest in einer Krise steckt, fragten sie:
Was ist passiert?
Sie wollten ein genaues Datum:
Wann genau hast du es gemerkt? Vor diesem oder nach jenem?
Sie wollten einen Grund:
Politik? Langeweile? Emotionale Gewalt?
Sie wollten einen Auslöser:
Hat er dich betrogen? Du ihn?
Ich hatte alles verneint, nichts war passiert. Das heißt, doch, alles, was sie aufzählten, war vermutlich passiert, doch es war nicht das Problem. Trotzdem bohrten sie weiter. Sie wollten Gründe, Motive, und vor allem wollten sie einen Anfang:
Wann, wann genau?
Ich erinnere mich, dass ich eines Tages, kurz vor dieser Reise, in den Supermarkt ging. Der Junge und das Mädchen stritten sich über die bessere Geschmacksrichtung eines Snacks. Mein Mann beklagte sich, dass ich ein bestimmtes Produkt ausgewählt hatte, vielleicht Milch, vielleicht Waschmittel, vielleicht Pasta. Ich entsinne mich, dass ich mir zum ersten Mal seit unserem Zusammenleben vorstellte, wie es wäre, nur für das Mädchen und mich einzukaufen, in einer Zukunft, in der wir keine vierköpfige Familie mehr wären. Ich entsinne mich an mein fast augenblickliches Reuegefühl bei diesen Gedanken. Und dann ein viel tieferes Gefühl – vielleicht Trauer um die Zukunft oder vielleicht eine innere melancholische Leere, die Gegenwärtiges aufsaugt und Abwesenheit verbreitet –, als ich das von dem Jungen ausgewählte Shampoo, Vanilleduft für den täglichen Gebrauch, auf das Förderband legte.
Aber es war bestimmt nicht an diesem Tag im Supermarkt, dass ich begriff, was mit uns geschah. Anfang, Mitte und Ende sieht man immer erst rückblickend. Wenn wir gezwungen sind, im Nachhinein mit einer Geschichte aufzuwarten, beschränkt sich unsere Erzählung selektiv auf die wichtigen Momente und umgeht alle anderen.
Das Mädchen ist fertig mit seiner Zeichnung und zeigt sie mir zufrieden. In das erste Quadrat hat sie einen Hai gemalt. Im zweiten ist der Hai unter Wasser von anderen Meerestieren und Algen umgeben, die Sonne ganz oben in einer Ecke. Im dritten Quadrat betrachtet der Hai verstört eine Art Unterwasserkiefer. Im vierten und letzten beißt der Hai einen anderen großen Fisch, vielleicht ebenfalls ein Hai, den er wahrscheinlich auffrisst.
Und wie geht die Geschichte dazu?
Sag du’s mir, Mama, rate.
Also, erstens ist da ein Hai; zweitens ist er im Meer, wo er lebt; drittens ist das Problem, dass es nur Bäume zu fressen gibt, und ein Hai ist kein Vegetarier; und viertens findet er schließlich Futter und frisst es auf.
Nein, Mama. Ganz falsch. Haie fressen keine Haie.
Okay. Was ist dann die Geschichte? frage ich sie.
Die Geschichte ist, Figur: ein Hai. Schauplatz: das Meer. Problem: Der Hai ist traurig und verwirrt, weil ein anderer ihn gebissen hat, deshalb geht er zu seinem Nachdenk-Baum. Lösung: Er trifft eine Entscheidung.
Und welche?
Dass er den anderen Hai nur zurückbeißen muss, weil der ihn gebissen hat.
CHAOS
Der Junge und sein Vater wachen schließlich auf, und beim Frühstück besprechen wir unsere Pläne. Mein Mann und ich finden, dass wir weiter müssen. Die Kinder beklagen sich und wollen länger bleiben. Das ist kein normaler Urlaub, erinnern wir sie; wir können zwar gelegentlich anhalten und etwas Schönes unternehmen, aber wir müssen beide arbeiten. Ich muss anfangen, Material für meine Dokumentation zu sammeln. Den Radionachrichten und meinen Netzrecherchen zufolge spitzt sich die Lage im Süden an der Grenze mit jedem Tag zu. Mit Unterstützung der Gerichte hat die Regierung soeben die Schaffung einer Prioritätenliste für Kinder ohne Papiere angekündigt, und das heißt, dass Kinder, die an der Grenze ankommen, vorrangig abgeschoben werden. Die Bundeseinwanderungsgerichte werden die Bearbeitung ihrer Fälle allen anderen vorziehen, und wenn sie keinen Anwalt finden, der sie innerhalb der absurd kurzen Frist von einundzwanzig Tagen verteidigt, haben sie keine Chance und erhalten von einem Richter einen endgültigen Abschiebungsbefehl.
Natürlich erzähle ich das nicht alles den Kindern. Aber dem Jungen erkläre ich, dass mein aktuelles Projekt zeitempfindlich ist und ich so schnell wie möglich zur Grenze im Süden muss. Mein Mann hingegen möchte so bald wie möglich nach Oklahoma, um einen Apachen-Friedhof zu besuchen. Der Junge wirft uns im Tonfall einer kleinbürgerlichen Hausfrau aus den 1950ern vor, dass wir immer »die Arbeit vor die Familie stellen«. Wenn er älter ist, erwidere ich, wird er verstehen, dass beides nicht voneinander zu trennen ist. Er verdreht die Augen, findet mich berechenbar und selbstbezogen – zwei Adjektive, die ich von ihm noch nie gehört habe. Ich tadle ihn und sage, er und seine Schwester sollen das Frühstücksgeschirr abwaschen.
Erinnerst du dich noch, als wir andere Eltern hatten? fragt er sie, als die beiden mit dem Abwasch und wir mit dem Packen anfangen.
Wie meinst du das? antwortet sie verwirrt und reicht ihm das Spülmittel.
Wir hatten mal Eltern, die besser waren als unsere jetzigen.
Ich höre ihm zu, wundere mich und mache mir Sorgen. Ich würde ihm gern sagen, dass ich ihn liebe, bedingungslos, dass er mir nichts beweisen muss, dass ich seine Mutter bin und ihn immer in meiner Nähe haben will, und dass auch ich ihn brauche. Das alles sollte ich ihm sagen, aber wenn er sich verhält wie jetzt, werde ich distanziert, zurückhaltend und vielleicht sogar ziemlich kalt. Es ärgert mich, dass ich seine Wut nicht beschwichtigen kann. Normalerweise wende ich es nach außen, wenn ich durcheinander bin, und schimpfe ihn für Kleinigkeiten: Zieh deine Schuhe an, kämm dir die Haare, heb diese Tasche auf. Sein Vater behält seinen Ärger meistens für sich, er schimpft ihn nicht, sagt und tut nichts. Er wird nur passiv – ein trauriger Betrachter unseres Familienlebens, als sehe er einen Stummfilm in einem leeren Kino.
Als wir den Jungen kurz vor der Abfahrt bitten, beim Einräumen der Sachen im Kofferraum zu helfen, kriegt er einen noch größeren Wutanfall. Er sagt schreckliche Dinge, wünscht sich, er könne in einer anderen Welt und einer besseren Familie leben. Wahrscheinlich glaubt er, wir sind nur dazu da, um ihn unglücklich zu machen: Iss dieses Spiegelei, das dich ekelt; los jetzt, beeil dich; lerne auf diesem Fahrrad zu fahren, vor dem du Angst hast; zieh diese Hose an, die wir dir gekauft haben, obwohl sie dir nicht gefällt – sie war teuer, sei gefälligst dankbar; spiel mit diesem Jungen im Park, der dir vorübergehend Freundschaft und seinen Ball anbietet; sei normal, sei glücklich, sei ein Kind.
Er schreit immer lauter und wünscht, wir wären weg, wir wären tot, und tritt gegen die Autoreifen, schmeißt mit Steinen und Kies. Wenn er sich so in Rage redet, klingt seine Stimme für mich weit weg, unnahbar, fremd, als hörte ich sie auf einem alten analogen Tonbandgerät, durch Metalldrähte und mit Störgeräuschen, oder als wäre ich eine Telefonistin und lauschte ihm in einem weit entfernten Land. Irgendwo im Hintergrund erkenne ich СКАЧАТЬ